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Herr Jott

Der Ruf von Zimmer 221 löste bei den Pflegern stets kollektives Augenrollen aus. Denn hinter der Nummer verbarg sich Herr J., und der meldete sich gerne mehrmals pro Stunde. Herr J. war erst neu in dem Altenpflegeheim, in dem ich meinen Zivildienst ableistete. Und nicht nur das: Auch das Heim war neu, im Aufbau befindlich, und Herr J. erhoffte sich hier eine bessere Behandlung als in der benachbarten Kurstadt.

Er hatte es nicht einfach, denn er leidete mit seinen knapp über 60 Jahren an einer Krankheit, die mit Seltenheit punkten konnte: ALS oder Amyotrophe Lateralsklerose. Er konnte sich mit anhaltendem Krankheitsverlauf weniger bewegen, war aber geistig um so mehr auf der Höhe.

Die – ebenfalls von den Pieptönen am Notrufgerät genervte – examinierte Pflegerin sagte dann oft: “Stell dir mal vor, du hast irgendeine Falte unter dem Rücken. Aber du kannst dich aus eigener Kraft nicht umdrehen”. Was könnte das in deinem dennoch gesunden Kopf ausrichten? Die Falte unter dir könnte die ganze Welt bedeuten.

Es dauerte, bis Herr J. und ich mich anfreundeten. Wir waren uns von Anfang an nicht grün. In seinen Augen war ich das Abbild des langhaarigen, faulen Zivis schlechthin. Und ich selbst hatte einen älteren Menschen vor mir, der wahnsinnig hohe Ansprüche an die Pflege erhob, obwohl alleine auf seinem Flur noch mindestens zehn andere Menschen dringendere Probleme hatten.

In meiner ersten Zivi-Zeit durfte ich ihm lediglich das Essen “reichen” (beim Wort “füttern” gab es bereits den ersten Rausschmiss). Geschulte Leute mussten ihn aufrichten und betten, die Sauerstoffzufuhr etc. regeln, dann durfte ich zu ihm. Es musste früh morgens um halb acht Mehrkornbrötchen mit Schinken geben, jede Brötchenhälfte jeweils in neun kleine Teile geschnitten (Vorbereitung: 5 Minuten. Schinken so klein schneiden! Donnerwetter), damit sie per Gabelreichung durch die beiden Luftschläuche in seinen Mund gelangen konnten. Den anschließenden Milchbrei unbedingt mit 67° Celsius. Ein abweichendes Grad spürte er.

Ein Künstler-Mäzen soll er gewesen sein. Journalist für Zeitungen Oho (das Neunziger-Jahre-Oho). Eine ehemalige Sekretärin brachte ihm Text-Ausschnitte, die sie auf Pappen geklebt hatte, zum Lesen mit, damit er sie – sobald er mit einem Artikel fertig war – wegen seiner eingeschränkten motorischen Fähigkeiten von einem Lese-Gestell einfach zur Seite schieben konnte.

Unsere gegenseitige Wortwahl war – vornehm ausgedrückt – arschkühl. Wir konnten uns nicht ab. Lieber hatte ich mit Frau Wilhelm herum gedölmert als diese Tortur über mich ergehen zu lassen. Und es dauerte und dauerte… bis es zu einem für ihn gesehenen Notfall kam.

221 stand eines Morgens erneut auf dem Display der Notrufe, daneben aber auch viele andere Nummern. Alle Fachkräfte waren unterwegs, nur noch ich blieb übrig. Das Betreten des Zimmers von Herrn J. war kein Zuckerschlecken, ganz besonders, wenn man es wie ich leer vorfand und nur die Wassergeräusche aus dem Duschkabine wahrnahm. Nachdem ich die dortige Tür geöffnet hatte, fand ich Herrn J. vor, in seinem Duschstuhl sitzend und mit dem Beatmungsgerät bewaffnet und um “Hilfe” schnappend. Ich hievte ihn dort heraus, auch wenn er um Schmerzen schrie, und brachte ihn in sein Bett.

Seitdem war alles anders.

Er erkundigte sich bei den morgendlichen Frühstücken, was ich gerne mache. Und damals – als ich noch sehr sicher war, in die Physik zu gehen – erzählte ich ihm von der “Kurzen Geschichte der Zeit” von Stephen Hawkings. “Ach, übrigens! Der Herr Hawkings hat ja dieselbe Krankheit wie Sie”, entwich es mir dabei. Hawkings kannte er nicht. Mao-Tse Tung schon (seltsamerweise).

Beim nächsten Frühstück hatte er Hawkings Buch auf seinem Lese-Gestell. Und warf es mit seiner funktionierenden Hand schnell zur Seite, als er mich beim Eintritt ins Zimmer bemerkte. Ich hab’s dennoch gesehen. Und er auch. Ab da waren wir Freunde.

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Rudolf Jüdes (Herr J.) hat übrigens etliche Bände mit Haikus gefüllt. Aus dem Gedächtnis, einmal in der Woche seiner ehemaligen Sekretärin zur Niederschrift gebracht. Wir waren am Ende dann doch so dick miteinander, dass ich ein paar Ausgaben davon hab. Einschließlich einer schönen Kaffeetasse zu Weihnachten.

Herr J. lebt nicht mehr. Wir sehen uns im Universum nebenan.

Gesprächsfetzen zwischen Depressiven und Angstgestörten, Teil 1

A: “In den letzten Nächten hab ich dauernd solche Weltuntergangs-Albträume. Ungefähr mit der Dramatik eines Emmerich-Films, aber viel wahrscheinlicher. Ein statistisch längst überfälliger Komet schlägt in dem Traum ein, und danach muss sich alles um uns herum – also aus den Augen des Träumenden, will sagen: mir – einfach innerhalb weniger Sekunden einer irrsinnig hohen Welle von Feuer ergeben… Ein rapide, Breitengrad für Breitengrad fortschreitender Weltenbrand. Mit ganz viel Geschrei, von Müttern, Kindern… also Menschen insgesamt, du weißt schon.”

B:” Warum denn Albtraum?”

Sobeckis @ 800hoch2

Für Kunst im öffentlichen Raum konnte ich mich schon immer begeistern. Selbst wenn irgendwo eine klitzekleine, selbstgebastelte fisselige Figur an einem Straßenschild hing, war ich hin und weg. Um so mehr konnte ich mich natürlich für das vom Bielefelder AstA organisierte 800hoch2-Festival einnehmen lassen.

Workshops, Vorträge, Filmvorführungen etc. pp. hatten ein paar wenige Leute des dortigen Kulturreferats in einem Jahr organisiert, anlässlich der Bielefelder 800-Jahrfeier und – so vermute ich – auch um einen kleinen Kontrapunkt zum regulären Programm dafür zu setzen.
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Einer der wesentlichen Effekte war der, dass nahmhafte, internationale Künstler sich in den letzten zwei Wochen auf großen Flächen austoben konnten. Und da ich für mein Stadtteilprojekt dafür unterwegs war, dachte ich mir, kann ich auch einmal ein paar davon an dieser Stelle zeigen.

So z.B. dieses beeindruckende Ding der Belgrader Zwillinge “Sobeckis“. Sie bekamen die Fläche einer Brandmauer (Heeper Str., am Netto-Markt) zur Verfügung. Die 83-jährige Hauseigentümerin hatte von dem Festival gehört und ihre Wand gerne hergegeben.

Von der Entstehung bis zum Ergebnis:

Das Gewese um den Romanbeginn…

…wird hiermit relativiert:

Paranoid Pynchon

vineland-pynchonWenn “Vineland” das zugänglichste Buch (Salman Rushdie) Pynchons ist, dann interessiert mich nach dessen Lektüre nun doch, was er noch fabriziert hat. Denn ich hatte Vineland als Geschenk bekommen und bis dahin war ich nur wenig interessiert um das Machwerk von jemandem, der um seine Identität so einen Bohei macht. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hatte noch nie eine Zeile von Pynchon gelesen, aber ich hielt dessen Ostentativ-Anonymität stets für einen Marketing-Trick, auf den ich nicht hereinfallen wollte. Und außerdem: Handelten in US-Amerika hochgelobte Romane nicht meist von generationenübergreifenden Familiengeschichten, die sich am gesellschaftlichen Wandel entlangschleppten? Big yawn (All-time Ausnahme: Jonathan Frantzen).

Der Titel ist namensgebend für eine Region in Kalifornien. Und dorthin ist Zoyd Wheeler mit seiner Tochter Prairie in den 1980er Jahren abgetaucht. Der Althippie hält sich mit spektakulären Kunstaktionen wie Fenstersprüngen über Wasser. Und bei einem davon wird er mit einem seiner Erzfeinde konfrontiert, dem Drogenfahnder Hector Zuniga, der nach langen Jahren der Feindschaft inzwischen in Behandlung ist wegen TV-Seriensucht und selbst von einer dementsprechenden Behörde gejagt wird. Die Dialoge zwischen den beiden Kontrahenten sind nicht nur sarkastisch, sondern enorm zynisch. Es wird nicht gelacht, es wird verletzt. Lachen tut nur der Leser, weil 1.) die Umstände der Reagan-Jahre so fern liegen als auch 2.) die Situation der Personen sich als immer abstruser darstellt.

Wheeler erfährt erneut von Brock Vond, dem Super-FBI-Bullen, der ihm seine Frau und Kindsmutter ausgespannt hat und nach wie vor hinter allen beteiligten Personen her ist. Frenesi, Wheelers Frau und Prairies Mutter, ist als ehemalige Dokumentarfilmerin von Demontrationen (sinngem.: “Die Kammera ist eine Waffe”) zwischenzeitig untergetaucht. Stets mit dabei: DL, die Ninjakämpferin (die bei der Veröffentlichung 1990 schon so etwas wie Tarantinos Fünf-Punkte-Pressur-Herzexplosions-Technik in petto hat und diese auch anwendet), und mit der Frenesi auch in einem Kloster voller “Ninjettes” unterkommt.

Es gitb UFOs, die Linienflüge in der Luft überfallen. Es gibt ein “Büro für karmische Schadensregulierung”, betrieben von Brock Vonds Doppelgänger Takeshi Fumimota. Und Godzilla lässt ebenfalls grüßen.

Alle Beteiligten sind aber geprägt von einer hohen Anspannung und Paranoia – einmal abgesehen von den Figuren, die beim Staat angesiedelt sind. Und wenn der mächtige Vond einige von ihnen auf seltsamen und nirgendwo kartierten Straßen in nirgends verezichnete Internierungslager verschwinden lässt, dann wird diese Stimmung wohl vielleicht etwas mit dem beschriebenen Jahrzehnt zu tun haben (?).

Ich seh schon: Mehr Pynchon.

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