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Bundeshauptstadt
Punkt 14
Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese zusätzlichen Blätter an meinen Fragebögen nicht für mich bestimmt sind. Aber: Punkt 14!
Die Verschlimmerung

„Was war das?“ fragte er plötzlich und überraschte mich mitten in unserem Gespräch, so dass mir nichts anderes blieb, als mit einer Gegenfrage zu kontern: „Was war ‘was‘?“
Er wurde genauer: „Als Sie eben gerade „Ganz genau!“ sagten, zeigten Sie mit ihrem rechten Zeigefinger auf mich. Was bedeutete diese Geste?“
„Ich wollte damit meine Zustimmung zu dem, was Sie davor gesagt haben, unterstreichen,“ gab ich zu.
Er ließ nicht locker: „Was habe ich denn davor gesagt?“
„Das müssen Sie doch wissen. Gucken Sie doch in Ihre Notizen, Sie schreiben doch andauernd mit!“ wurde ich schroff.
„Das stimmt. Aber das notiere ich mir doch nicht, ich schreibe mir doch nur das auf, was Sie sagen.“
Da war er wieder, der Punkt, bei dem ich wie in jeder Sitzung dem Verzweifeln nahe war. Als ich das erste Mal diese Räume betreten hatte, hätte ich schon im Wartezimmer gewarnt sein müssen. Dort saß ich verstörend-symbolistischen Gemälden gegenüber, auf jedem waren Dreiecke in den unterschiedlichen Grundfarben zu sehen, je Bild in anderer Konstellation zueinander angeordnet.
Im Wartezimmer war ich zunächst in ein Buch versunken, eines von vielen, die ich neuerdings zufällig kaufte und in denen – ohne Vorahnung – am Rande von psychiatrischen Krankheitsbildern die Rede war. Vielleicht deutete ich sie auch hinein. Während ich wartete, gab der Erzähler im Roman seinen immer wiederkehrenden Albtraum wieder, Queen Viktoria mit dem Knauf einer Schildpattbürste befriedigen zu müssen. Nach einer Schilderung übelster Gerüche endete sein Traum mit einer lauten Entrüstung, die ihm von oberhalb des königlichen Rocks begegnete: „Wir sind nicht stimuliert!“
Eine würdigere Verwendung des Pluralis majestatis war bis dahin nicht begegnet.
Mein daraufhin laut erschallendes Gelächter ließ einige der anderen Patienten gehen, die anderen stießen von mir ab wie gleich geladene Teilchen und versammelten sich auf den Stühlen in der Ecke mir gegenüber. Auch der Therapeut selbst wurde auf mich aufmerksam, kam an meinen Platz und entschuldigte sich dafür, dass er mich eine Stunde lang hat warten lassen. Über meiner Lektüre hatte ich die Zeit nicht bemerkt, aber seine Entschuldigung, den Termin beim Synchronisieren seines Handys verloren zu haben, hätte mich ebenfalls vorwarnen sollen. Endgültig erschlagen wurde ich dann von den visuellen Eindrücken im Sprechzimmer.
Direkt hinter ihm, an der Wand die ich betrachten musste, wenn ich ihn nicht ansehen wollte, hing ein überdimensionales Bild, auf dem gigantische, neongrüne, -gelbe, und -orangene Blasen ineinander fassten. Einerseits bekam ich die Dollarzeichen in den Augen ob der vermuteten Werbeeinnahmen für die noch zu erstellende Internetseite bilder-bei-therapeuten.de. Andererseits musste ich unweigerlich einen Vergleich zu meinem Sachbearbeiter bei der Agentur für Arbeit ziehen, der mir – um seine eigene Existenz zu sichern – einfach keine Arbeit beschaffte.
Ich kam zu der Überzeugung, dass dieser Therapeut einfach einen guten Marketingberater hatte: Diese Bilder hatten einen eindeutig kundenbindenden Effekt. Außerdem war der vor mir sitzende Mann offenbar nicht in der Lage, Ironie zu erkennen.
Erst wenige Tage zuvor hatte ich meine Ärztin besucht. Sie hatte in ihre Tastatur gewiehert, als ich sie gefragt hatte: „Warum eigentlich Antidepressiva? Könnten Sie mir nicht ein Prodepressiva verschreiben, das einen Keil zwischen die Synapsen treibt, damit da auch ja nichts durchkommt?“ Woraufhin sie nach einigem Luftholen wieder nüchtern meinte: „Jaja, so etwas wünsche ich mir manchmal auch.“
Nein, dieser aktuelle Therapeut hier vor mir war sichtlich merkbefreit.
„Und, wie geht es Ihnen heute?“ fragte er gleich zu Beginn, als hätten wir uns vorher schon einmal gesprochen.
„Besser, ich habe ein neues, wohltuendes Ritual für mich entdeckt“, log ich. Natürlich wollte er wissen, worum es sich dabei handelte.
Ich blickte leicht zur Seite, mit dem Blick eines überraschend mit Weisheit Geschlagenen und antwortete: „Abends zünde ich mir neuerdings auf dem Sofa eine entspannende Zigarette an, gieße mir einen guten Rotwein ein, und dann, dann erschlage ich Motten mit dem Pschyrembel. Bei den vielen Krankheitsbildern und farbigen Abbildungen, die man dabei entdeckt, da weiß man erst wieder, wie gut es einem selbst doch geht.“ Mein Gegenüber erstarrte.
„Außerdem kann ich mir jeden Morgen unter den siebzehn Einträgen von „Depression, agitierte“ bis „Depression, wahnhafte“ je nach Befindlichkeit eine rauspicken.“
Ich sah seinem Gesicht an: Würde die Krankenkasse einer Therapie nicht zustimmen, er würde sie aus eigener Tasche bezahlen. Und als ich aus eigenen Stücken die Begriffe „Reaktionsmuster“ und „Konditionierung“ benutzte, da sah ich in seinen Augen Frühlingsgefühle aufleuchten.
So sehr ich meinen Spaß auch hatte, etwas stimmte mich bei jeder Sitzung unzufrieden. Gleich beim ersten Mal erhielt das Gespräch eine vom ihm gesteuerte Wendung. „Sie halten sich sehr viel hier auf dem Siegfriedplatz auf, richtig?“ Zustimmung meinerseits.
„Und jetzt im Herbst, da ist dieser große, große Platz doch sehr, sehr leer. Beunruhigt Sie das?“ fragte er und ich konnte dem nicht unbedingt widersprechen.
Ich hätte früher darauf kommen sollen, bei aerzte-gesucht.de die Meinung anderer seiner Patienten zu lesen. Dann wäre mir schneller bewusst gewesen, dass egal, was für Mängel man hat (ob Depressionen, Zwänge, Frustrationen, Neurosen, Psychosen), alle von ihm gestellten Diagnosen auf die Angst vor großen, leeren Plätzen, der Klaustrophobie, hinauslaufen. Der Mann kannte mich in der kurzen Zeit besser als meine Eltern oder meine besten Freunde: Das Kindergarten-Schwänzen, die Prügelei mit Ulrich in der zweiten Klasse. Die Anhimmeleien von Klassenkameradinnen bis hin zu den ganz peinlichen Dingen. Aber egal wie, er bog das anscheinend irgendwie zur Platzangst hin.
Nach dem Ende der ersten Sitzung wusste keiner von uns beiden, wessen Nerven sich in der vergangenen Dreiviertelstunde mehr aufgerieben hatten. Er drückte mir zur Belohnung etwas in die Hand und als ich erkannte, um was es sich dabei handelte, wäre ich vor Begeisterung beinahe in Ohnmacht gefallen: In meiner Hand lagen drei Werthers Echte.
Neben der Tür, zu der er mich geleitete, lag auf einer Kommode ein Buch: „Weisheiten für jeden Tag“. Ich rang mit der Fassung, als er mir anbot, als zusätzliche Belohnung das literarische Zitat für den heutigen Tag vorzulesen. Dabei handelte es sich um eine unpassende Sentenz über die Liebe von – wie er sagte – Victor HUGO (statt korrekt [ügó]). Daraufhin nickte er und sagte leise und bedächtig: „Jaja, der ist schwer, der HUGO.“
Zufällig hatte ich einen Band pessimistischer Aphorismen dabei. Ich brauchte ihn aber nicht hervorholen, sondern bedankte mich bei ihm mit einigen besonders knackigen, die ich bereits auswendig kannte:
-„Der Mensch schwitzt Unheil aus“
-„Ein Mönch und ein Metzger streiten sich im Inneren einer jeden Lust“
-„Alle Gewässer haben die Farbe des Ertrinkens“
Er blickte zuckend erst zur einen, dann zur anderen Seite, darauf sagte er verunsichert „Äh, jaaa, das ist ja schön“, und entließ mich zu meinem Erstaunen in die Freiheit.
Bei unserem nächsten Termin erzählte ich ihm von einer Begegnung auf dem Siggi, einem Menschen, der im ersten Moment alle Personen übel und laut beschimpfte, um sich im nächsten Augenblick mit der Gitarre hinzusetzen und seinen Evergreen anzustimmte: „Drogennehmen und Autofahren“. Das war die einzige, sich ständig wiederholende Textzeile. Ich sagte, ich würde ihn beneiden.
„Ach, und wieso?“ wollte der Therapeut wissen.
„Weil er eine so herrlich bipolare Störung hat, es aber selbst nicht mehr merkt,“ entgegnete ich.
„Aber jetzt, bei diesen Temperaturen ist er doch wahrscheinlich auch nicht mehr auf dem großen, großen, leeren Platz…“ usw. usf.
Es gab drei Werthers Echte und ein Zitat von einem polnischen Dichter, das mich davon überzeugte, das Buch sollte nicht „Weisheiten“, sondern besser „Doofheiten für jeden Tag“ heißen.
Was er nicht wusste, war, dass mich mein Freundeskreis aus Gier über neue Therapeutengeschichten mit den schärfsten literarischen Waffen des irrsinnigen Abendlands ausgestattet hatte. Ich wählte als Dank einen Satz aus Thomas Bernhards „Gehen“. Der Satz zog sich über drei Seiten hin. Der Ich-Erzähler monologisierte darin zahlreichen Haupt- und Nebensätzen, ineinander verschachtelt und teilweise in dreifacher indirekter Rede, warum er und eine weitere Person zunächst in die eine, dann wieder in die andere Richtung gehen.
Mein Therapeut konnte nicht mehr gehen. Er wankte vom Zuhören, ich hatte ihn literarisch angeschossen. Es sollte – zu meinem Bedauern – unser letzter Exkurs zum geschriebenen Wort gewesen sein.
Die dritte Sitzung verlief erschreckend nüchtern und seine Miene wies mir gegenüber ständige Skepsis auf, mit einer Vorsicht, als könnte ich ihm unvermittelt über den Schreibtisch springen. Als ich noch einmal „Ganz genau!“ sagte und ihm den Zeigefinger entgegenstreckte, zuckte er zusammen und rückte in seinem Stuhl zurück.
Die Bonbons musste ich mir dieses Mal beim Hinausgehen aus einem Schälchen auf der Kommode klauen.
Beim vierten Termin war er verschwunden. Auch die Sprechstundenhilfe konnte ihn nicht mehr erreichen. Aus der Zeitung erfuhr ich, dass ein entführter Psychotherapeut, dessen Alter und Initialen zu ihm passten, mitten in der Woche nachts auf dem leeren Kesselbrink ausgesetzt wurde. Dort wurde er am frühen Morgen von den Markthändlern sich krümmend und winselnd auf dem Boden gefunden. Sie brachten in in die Polizeiwache, und die Ordnungshüter ihn direkt nach Gilead IV.
Ob er je genesen wird? Ich würde keine drei Werthers Echte darauf geben. Wer die Entführer waren, konnte nicht ermittelt werden, aber es sei nicht auszuschließen, dass sie in seiner Patientenkartei aufzufinden seien. Ich schloss nicht einmal mich selbst aus. Ich konnte mich zwar an eine solche Tat nicht erinnern, aber ich war schließlich verrückt.
Wem ich diesen Vorfall auch zu verdanken hatte, ob einem Unbekannten oder mir selbst: Mir verschaffte er die Überweisung zu jemand anderem. Und der scheint offensichtlich fachkundiger und besser zu sein.
Denn in seinem Wartezimmer, dort hängen nur Bilder mit bunten Quadraten.

(vorgetragen hier)
(Bild 1: shaire productions, Lizenz)
(Bild 2: Rouven Ridder)
Bastelstunde

Bei meinen Eltern auf dem Dachboden dürften sich noch viele alte Bücher befinden. Zwischen den “Was-Ist-Was?”-Bänden müsste sich unter anderem ein Buch, ach was, ein Foliant namens “Moumente der Welt” befinden. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1988 wurde dieses 3,5 Kilogramm schwere Buch in den drei verfügbaren Fernsehsendern stark beworben. Zwölfjährige Jungen hatten damals™ nichts Besseres zu tun, als die Eltern daraufhin zu bequengeln, dieses, nur dieses eine Buch als Geschenk unter den Weihnachtsbaum zu legen. Es kostete seinerzeit 110 Deutsche Mark, wenn ich mich recht entsinne.
417 Seiten rappelvoll mit sogenannten Wundern konnte der kleine Rouven sodann – nachdem er es tatsächlich geschenkt bekam – aufgeregt durchblättern: Technik, Archiktektur, menschlicher Größenwahn in all seiner Pracht mit Bildern in aufklappbarer DIN A3-Form. Aus heutiger Sicht wirkte es, als befände sich ein äußerst umfangreicher Wikipedia-Artikel auf Hochglanzpapier zwischen meinen Fingern.
Jungs im begeisterungsfähigen Grundschulalter neigen dazu, Dinge, die sie bewundern, nachzuahmen oder zu -bauen. So auch ich. Ich malte nach, schnitt Papierbögen zurecht und bald besaß ich ein kleines Diorama der Weltwunder. Vom Taj Mahal bis zu den Pyramiden von Gizeh, vom Eiffelturm bis zur Akropolis standen die Sehenswürdigkeiten dieses Globusses konzentriert in meinem Kinderzimmer. Papiergewordene Phantasien als Ersatz für viele Reisen, die den Reihenhausjugendlichen stattdessen nur in holländische Center Parcs führten.
Von all den Miniaturen waren die allerersten, die ich anfertigte, geichzeitig diejenigen, die die wenigste Zeit beanspruchten: Die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Vier Scherenschnitte an den Seiten, auf einem der beiden Rechtecke noch ein Schnippsel für die Antenne angefügt. Mit dem Bleistift ein paar parallele Linien entlanggezogen, fertig war das Ebenbild. Aus rein architektonischer Sicht war das WTC, abgesehen von seiner Größe, keine Glanzleistung. Aber es bescherte kleinen Jungs einen einfachen Nachbau. Wir haben nämlich in jungen Jahren noch keinen Sinn für Kurven.
Gut ist die Erinnerung noch an einen meiner letzten papierenen Nachbau-Versuche, dem vom Taj Mahal. Erst nach gefühlten drölfzig Versuchen stand die Zwiebelkuppel einigermaßen symmetrisch. Aufgrund dieser Erfahrung hatte ich mich dem Moskauer Kreml nicht weiter gewidmet. Wie wohl demgegenüber doch das Gefühl eines perfekt gelungenen World Trad Centers war. Schade drum. Heute müssten bastelwütige Kinder wahrscheinlich mit etwas ebenfalls derart Einfachem beginnen. Im Zweifelsfall mit irgendwelchen Pyramiden.
P.S.: Der Gedanke an das Buch “Monumente der Welt” erfüllte mich übrigens soeben mit nostalgischer Gerührtheit. Kurz dachte ich daran, meine Eltern anzurufen und sie zu bitten, auf den mit Mäusedreck verunstalteten Dachboden zu steigen, es heraus zu kramen und mir zu schicken. Doch den einen Ebay-Euro hab ich dann doch noch auf meinem Paypal-Konto übrig gehabt. Die 4,50 Euro für den Versand auch. Der Paketbote wird mich ob des Gewichts verfluchen.